7.

 

Es würde wohl kaum einen verwundern, wenn ich sagte, daß ich aus diesem Alptraum schreiend aufgewacht sei.

Doch so war es nicht. Vielmehr weckten mich völlig reale Geräusche, allerdings von jener Subtilität, welche allein den hypersensiblen, eigentlich für die Jagd gedachten Lauschern meiner Spezies zugänglich sind. Ein Rascheln und Knistern, fast unhörbar und geheimnisvoll. Noch die Traumbilder im Kopf, schaute ich mich im dunklen Zimmer um. Antonio hatte sich auf dem Nachbarkissen zusammengekringelt und fiel augenscheinlich von einer Tiefschlafphase in die nächste. Weder schnarchte noch furzte er dabei, wie es sich für einen Adonis in jeder Lebenslage gehört, und selbstverständlich machte er selbst im Kringeldesign eine tadellose Figur.

Die Zimmertür stand einen Spaltbreit offen, durch den fahles Licht fächerförmig auf den Boden fiel. Auch die verdächtigen Geräusche kamen daher. Ich mußte mehrere Stunden geschlafen haben, denn die Strapazen der Reise und die Müdigkeit waren nun wie weggewischt. Nach einer kleinen Streckübung, bei der alle Muskeln und Sehnen gleichsam geölt wurden, schlich ich mich zur Tür und riskierte einen Blick hinaus.

Im matten Licht einer antiken Kutscherlampe sah ich am oberen Treppenabsatz Samantha. Sie hielt sich direkt neben dem Fahrstuhlkäfig auf und trippelte auf dem Marmorboden unruhig hin und her. Dabei schien sie über die Windung des Treppenverlaufs hinweg das untere Geschoß im Auge zu behalten. Leise, als schwebte ich auf Luftkissen, verließ ich den Raum und näherte mich ihr von hinten. Dann machte ich hinter ihrem Rücken halt und reduzierte das Atmen auf ein Minimum, damit sie mich nicht hören konnte. Ich wollte sehen, was sie sah, und nahm gleichfalls das erste Stockwerk ins Visier.

Der kleine Ausschnitt durch die offenstehende Tür ins Zimmer des Fürsten zeigte wenn schon kein sensationelles, so doch ein einigermaßen befremdliches Bild. Der alte Mann hatte seinen Morgenmantel abgelegt und kleidete sich gerade um. Das allein war um diese späte Stunde – ich schätzte, daß wir inzwischen etwa drei oder vier Uhr in der Nacht haben mußten – ungewöhnlich genug. Noch ungewöhnlicher jedoch wirkte die neue Kleidung oder besser gesagt die Kostümierung selbst.

Natürlich gehörte der Fürst einer abgehobenen Schicht an, und natürlich war es kaum erstaunlich, daß ein vereinsamter Greis dann und wann äußerst seltsame Dinge tat. Trotzdem fand ich die ganze Maskerade in höchstem Maße bizarr.

Seine Wohlgeboren trug einen Frack aus der vorletzten Jahrhundertwende, mit fast bis zum Boden reichenden Schößen, weißer Seidenweste und bombastischer Fliege.

Es fehlte nur noch, daß er sich ein schwarzes Cape überwarf, einen Zylinder aufsetzte und … Während ich mir dies gerade ausmalte, wurde es auch schon Wirklichkeit! Er schnappte sich Pelerine und Hut von einem Ständer und vervollkommnete so seinen gruftigen Look. Nun stand er da wie Graf Dracula, vermutlich auf der Suche nach dem Glas, in dem das Vampirgebiß in der Reinigungslösung schwamm, oder einem gemütlichen Sarg mit Heizdecke. Seine trüben Augen jedenfalls schienen im Raum tatsächlich nach etwas zu suchen.

Plötzlich stürmte er vorwärts, fand einen altmodischen Spazierstock mit löwenkopfartigem Goldgriff, streifte sich weiße Samthandschuhe über und setzte eine schwarze Augenmaske auf.

Ich nahm an, daß der Fürst zu einem Maskenball aufbrechen wollte. Erfahrungsgemäß neigten sich Feierlichkeiten solcher Art um diese späte Stunde eher ihrem Ende zu. Ich war schon drauf und dran, der nervösen Samantha vor meiner Nase auf die Schulter zu klopfen und sie um des Rätsels Lösung zu bitten, als die Kette der Merkwürdigkeiten sich plötzlich um ein weiteres Glied erweiterte.

Der Maskierte verließ das Zimmer, stieg in den Fahrstuhl und fuhr hinab. Zunächst dachte ich, daß er zu gebrechlich sei, um die Treppe zum Erdgeschoß zu Fuß zu bewältigen. Dann allerdings sah ich durch das kunstvoll geschmiedete Gitterwerk, wie der Fahrstuhl am Erdgeschoß vorbeiglitt, weiter in Richtung Keller sank und schließlich in der unergründlichen Schwärze verschwand. Als hätte sie nur auf dieses Zeichen gewartet, preschte Samantha los und huschte die Treppe hinab.

Anfangs noch verwirrt, fing ich mich im nächsten Moment wieder, folgte ihr und schnitt ihr auf halber Strecke den Weg ab.

»Was wird hier gespielt, Samantha?«

»Francis, was machst du hier? Geh’ wieder schlafen!«

Die Blue-Point-Birma war jetzt nicht mehr wiederzuerkennen. Die Eleganz, welche die helle, rauchige Erscheinung noch vor ein paar Stunden versprüht hatte, war einem aufgewühlten, verängstigten Wesen gewichen. Jedes einzelne Haar des Fells stand inzwischen stachelgleich aufgerichtet, und sie trat vor Aufregung unwillkürlich von einer Pfote auf die andere.

»Willst du mir wirklich erzählen, daß in Anbetracht dieses Hokuspokus’ Schlafen die richtige Entscheidung wäre, Samantha?«

»Du hast keine Ahnung, Francis, und ich habe keine Zeit, dir die ganze komplizierte Geschichte jetzt hier darzulegen. Du und Antonio, ihr seid jedenfalls nicht die einzigen, die diese grausamen Verbrechen an unserer Art stoppen möchten. Im Gegensatz zu euch bin ich aber ein paar Schritte weiter, und ich verspüre wenig Lust, stehen zu bleiben und auf euch zu warten. Wenn du mich jetzt entschuldigen möchtest …«

Sie wollte sich an mir vorbei winden und die Stufen hinab ihrem Fürsten folgen. Doch wieder versperrte ich ihr den Weg.

»Ich entschuldige gar nichts«, sagte ich. »Entweder du erklärst mir, was der ganze Fasching mit den Morden zu tun hat, oder ich weiche nicht von deiner Seite. Und übrigens werde ich dir erst recht nicht von der Seite weichen, wenn du mir alles erklärt hast!«

»Hätte ich dich bloß nicht hier übernachten lassen!«

sagte sie, stieß mich weg und lief die Treppe herunter.

Jetzt, da ich wieder zu Kräften gekommen war, weckte ihr weißes Hinterteil mit dem buschigen Schwanz gewisse Gefühle in mir. Mehr als das. Plötzlich schoß der detektivische Springteufel mit solcher Wucht aus meiner Seelenkiste, daß es eine Wonne war, und ich wurde so scharf auf das bevorstehende Abenteuer, daß ich am liebsten gleich dem Fürsten persönlich gefolgt wäre. Es war fast wieder so wie in den guten alten Tagen.

»Komm mir aber bloß nicht in die Quere«, sagte Samantha, während sie die Treppe herunterhetzte. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Unterdessen hatten wir den großen Salon erreicht.

»Was hat der fürstliche Pinguin im Keller vor, Samantha?«

Wir umrundeten den Fahrstuhl und begaben uns zum Unterbau des Palazzos.

»Keller? Savoyen fährt nicht in den Keller.«

»Aber normalerweise befindet sich unter dem Erdgeschoß eines Hauses der Keller.«

»Klar, genauso wie sich unter dem Keller eines Hauses normalerweise nichts befindet.«

»Jetzt reicht es mir aber! Kannst du vielleicht deine Informationen so verteilen, daß ich, um etwas zu verstehen, nicht eine Versammlung von Weisen einberufen muß?«

Ich zwang sie erneut zum Stehenbleiben. An den Zuckungen in ihrem Gesicht merkte ich, daß sie vor Anspannung zu zerspringen drohte.

»Folge mir«, sagte sie und ließ sich beim Hinabsteigen nicht weiter aufhalten. »Diese Häuser wurden zu einer Zeit gebaut, als noch nicht Legionen von Archäologen ganz Rom seziert hatten wie Gerichtsmediziner eine ägyptische Mumie. Bei der Errichtung der Gebäude stießen die Bauherren damals gelegentlich auf das unterirdische, verschachtelte Katakombensystem, das diese Stadt unsichtbar durchzieht. Also machten viele aus der Not eine Tugend und ließen sich einen geheimen Eingang zum Untergrund einbauen. Wer weiß, wofür es gut ist, dachten sie.«

Wir gelangten nun in den Keller, der aus düsteren Fluren und Mauervorsprüngen bestand, welche wiederum Abzweigungen zu muffigen Räumen andeuteten. Meine Augen, die sich in der Finsternis naturgemäß zu Restlichtverstärkern umformen, erkannten, daß sich der Fahrstuhlschacht tatsächlich weiter nach unten fortsetzte.

Samantha kroch durch das Gitterwerk hindurch und ließ sich nach unten fallen. Todesmutig, wie ich nun einmal bin, tat ich es ihr gleich. Wir landeten auf allen vier Pfoten auf dem Dach des Fahrstuhls, wobei der freie Fall nach meinem Empfinden fast drei Meter betragen haben mußte.

Durch seitliche Schlitze zwängten wir uns in den Fahrstuhlkorb und verließen ihn durch die offene Tür.

Zuerst fiel mir die Helligkeit auf. Es war nicht gerade ein Feuerstrahl, doch immerhin nicht mehr die totale Dunkelheit. Von irgendwoher drang Licht in diese Tiefe.

Wir befanden uns in einer gewölbeartigen, kühlen Anlage, gemauert im kyklopischen Gefüge, mit Steinen in unregelmäßiger Form und Größe. Augenblicklich stieg mir der rheumafreundliche Moder von Jahrhunderten in die Nase und Spinnweben kitzelten meine Nase. Soweit ich erkennen konnte, gingen von hier mehrere rundbogenförmige Einlässe zu den Katakomben ab. Von dort schien auch das Licht zu kommen.

»Manche Menschen leben mehr in der Vergangenheit, vor allem die, die schon den Tod vor Augen haben«, sagte Samantha und eilte in Richtung des Lichts. Wir passierten einen Rundbogen und sahen uns einem Gang gegenüber, der sich schier unendlich in die Ferne zog. Vom Fürst keine Spur. Aus eisernen Körben, welche in weiten Abständen schräg an den Seitenmauern befestigt waren, ragten brennende Fackeln hervor. Unser Vorgänger schien sie angezündet zu haben.

»Sagt dir der Begriff ›Theosophie‹ etwas, Francis?«

sagte Samantha und legte wie gewohnt ein rasantes Tempo vor. Ich hechelte ihr durch den Gang hinterher.

»Nun, Latein und Griechisch sind wohl die einzigen Gebiete, in denen ich wirklich glänzen kann«, erwiderte ich. »Bleibt nicht aus, wenn man mit einem Archäologen zusammenlebt, der die Sprache dieser versunkenen Reiche wie seine eigene kennt. Theo heißt Gott, Sophia die Weisheit, Theosophie die Weisheit Gottes oder Weisheit der Götter.«

»Genau, verstanden als das Göttliche im Menschen«, erklärte Samantha, während wir uns immer tiefer in dem Schacht verloren. Der flackernde Schein der Fackeln trug nicht gerade dazu bei, meine Furcht in Grenzen zu halten.

Im Gegenteil, das im warmen Schimmer wogende Patchwork aus grobgehauenen Steinplatten begann mir so langsam, jegliche Orientierung zu rauben. Die halb aus den Zehenknochen ragenden Krallen scharrten über das Gestein, so daß unsere Schritte ein gespenstisches Hallen erzeugten. In weiter Ferne sah ich eine Gabelung auf uns zukommen, was meine Panik weiter steigerte. Samantha indessen blieb von der Brisanz der Exkursion völlig unberührt und durchquerte die Unterwelt wie eine abgeschossene Kugel, die ihr Ziel mit Sicherheit nicht verfehlen würde.

»Die Theosophie stammt aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Es ist der Versuch, aus allen Religionen eine einzige vereinigende Menschheitsreligion zu schaffen.

Hervorgegangen ist sie aus dem Spiritismus, der damals die halbe Welt bewegte. Schon dieser war gekennzeichnet vom Wunsch, religiöse Aussagen, zum Beispiel über die Unsterblichkeit der Seele und über das Leben nach dem Tod, mit wissenschaftlichen Methoden überprüfen zu können. Mit Hilfe menschlicher Medien suchten die Spiritisten mit der Totenwelt in Kontakt zu treten und sich über deren Wesen belehren zu lassen. Die Deutschrussin Helena Petrowna Blavatsky, die Gründerin der Theosophie, war solch ein spiritistisches Medium. Ihr genügten jedoch nicht die Aussagen über die Welt der Toten, sondern sie versuchte, die Geschichte des Kosmos und der Menschen zu erhellen. Damit war der Spiritismus überschritten und die Theosophie geboren.«

»Alles klar«, sagte ich. »Aber sollten wir vielleicht nicht lieber noch einmal La Traviata hören, bevor wir einer Totenerweckung beiwohnen?«

»Ich würde gern darüber lachen, wenn die ganze Sache nicht so verdammt ernst wäre, Francis. Dieser Verein ist gefährlich, mehr noch, er ist inzwischen zu einer üblen Sekte mutiert. Kein Wunder, ist doch die Theosophie gleichsam die Mutter aller dubiosen New-Age-Bewegungen und der pseudowissenschaftliche Unterbau der Rassenideologie. Schon die Nazis bezogen sich auf die Theosophie, und Hitler war ein glühender Anhänger der Lehre. Die Mitglieder wähnen sich als Ritter eines neuen Ordens. Sinn des Seins ist es demnach, dazuzulernen und durch Inkarnation von Klasse zu Klasse höherzuschreiten, bis man ein engelsgleiches Wesen geworden ist. Bloß daß die Anschauungen eher teuflisch sind. Das fängt schon damit an, daß es nach der theosophischen Überzeugung sieben sogenannte Wurzelrassen geben soll: die Polarier, die Hyperboreer, die Lemurier, die Atlantier, die Arier und zwei noch kommende. Selbstredend gehören die Theosophen zu den Ariern, abstammend vom ersten Reich, welches im atlantischen Ozean, genauer im sagenumwobenen Atlantis gegründet worden sei. Der Rest der Menschheit verharrt dagegen im Unterrassen-Dasein und gilt nicht viel. Bei dem gegenwärtigen Flüchtlings-und Ausländerproblem in Italien und anderswo in Europa ein Sprengsatz.«

Wir gelangten nun zur ersten Gabelung im Labyrinth.

Der gewölbte Mauerspitz unterteilte unseren Weg rechts in einen dunklen und links in einen von den Fackeln halbwegs erleuchteten Gang. Wir blieben seiner Fürstlichkeit auf der Spur und bogen links ab.

»Ja, eine Schande«, sagte ich. »Die Welt wird immer verrückter. Aber ist sie nicht schon immer verrückt gewesen? Ich meine, ausgeflippte Sekten mit ausgeflipptem Heilsglauben hat es schon immer gegeben, Samantha. Was soll an dieser so besonders sein? Und was um alles in der Welt hat das alles mit den grassierenden Morden zu tun?«

Samantha lächelte von der Seite ein mitleidiges Lächeln, als wäre ich zu dumm, um eins und eins zusammenzuzählen.

»Die Brisanz liegt zunächst darin, daß von dieser Theosophen-Seuche inzwischen hochrangige Schichten der Stadt infiziert sind. Politiker, Angehörige der Justiz, tonangebende Geschäftsleute, Adlige, wie du mitbekommen hast, mächtige Reiche und Teile der jungen Priesterschaft im Vatikan. Hin- und hergerissen zwischen den strengen Dogmen ihrer Kirche und den Verlockungen einer immer rasender pulsierenden Welt haben sich diese jungen Leute von dem wahren Glauben abgewandt und zu einer verborgenen Splitterbewegung innerhalb der katholischen Kirche zusammengetan. Sie sind sogar zur treibenden Kraft der Theosophie geworden.«

Schon nach kurzer Zeit hörte ich auf, die vielen Verästelungen und Querschächte zu zählen, die unsere Route kreuzten. Und auch die zurückgelegte Strecke war für mich nicht mehr entwirrbar. Die Fackeln erhellten genug, um Einblicke in gähnende finstere Löcher rechts und links unseres Weges zu erhaschen. Kammern, aus denen aufgetürmte Totenschädel mit aufgerissenen Kiefern lachten, flatternde Spinnwebenvorhänge, hinter denen unaussprechliche Dinge vor sich zu gehen schienen, und sich unendlich windende Korridore voller Ratten, die wegen ihrer Überzahl in mir bereits den Anflug eines Jagdinstinkts im Keim erstickten. Daneben streiften wir an Grabnischen mit losen Gebeinen vorbei und an Steinplatten, in die Gedenksprüche in Latein oder in Aramäisch eingraviert waren. Ich befürchtete schon, jeden Augenblick würde uns Gustav mit einer Petroleumlampe in der Hand entgegentorkeln, mit aufgerissenen Augen und irre lachend, endgültig übergeschnappt ob seines aufregenden Fundes.

Trotz meines sich sträubenden Fells versuchte ich so weit es ging, Haltung zu bewahren und mir nicht anmerken zu lassen, daß ich vor Beklommenheit kurz davor stand, die Unterwelt mit einem umweltfreundlichen Strahl zu bereichern.

»Können wir jetzt endlich den Bogen zu den Morden spannen, Samantha?« sagte ich in einem Ton, der sich unheimlich gelassen anhören sollte, der aber eher wie ein klägliches Krächzen klang. »Wenn es denn stimmt, daß diese Morde alle stattgefunden haben.«

»Wie viele Morde es gegeben hat, kann ich dir auch nicht genau beantworten, Francis«, sagte Samantha.

»Keine Polizei der Welt zählt tote Schnurrer. Und ist dir schon einmal ein Kommissar begegnet, der seine Arbeitszeit damit verschwendet, die Todesursache von Haustieren zu untersuchen? In der Zeitung liest man davon jedenfalls nichts. Ich bin auf Besucher wie dich und Antonio angewiesen, um nähere Informationen zu erhalten. Nach dem, was ich seit einiger Zeit jedoch in Erfahrung gebracht habe, scheint es sich um Ritualmorde zu handeln. Man hat bei den Opfern stets ein Ohr ›entkernt‹, ja, ich schätze, das Wort trifft einigermaßen den Tatbestand. Und da mein Hausherr ziemlich einsiedlerisch lebt und sehr dem Okkultismus zugeneigt ist, kam mir die Idee, ihn ein bißchen zu beschnüffeln. Ich begann mit der Literatur aus seiner großen Bibliothek, mit der er sich tagtäglich beschäftigt. Ab da war es ein Kinderspiel, die logische Linie herzustellen.«

»Was für eine logische Linie?«

»Es geht bei der Theosophie um Inkarnation, Francis.

Demnach wandert die Seele nach dem Tod des Körpers einfach eine Haustür weiter; sie wird in einem neuen Körper wiedergeboren, zumeist auch als ein völlig anderes Wesen, zum Beispiel als ein Tier. An diesem Punkt kommen wir ins Spiel. Da unsere Art seit Urzeiten mit Hexerei und Übersinnlichem in Verbindung gebracht wird und als Trägerin der Geheimnisse aus der jenseitigen Welt gilt, ist in diesem Kreis die Überzeugung weit verbreitet, daß vornehmlich wir die Seelen der menschlichen Ahnen beherbergen. Ein Aberglaube, der ziemlich resistent ist. In ihren okkulten Zeremonien versuchen die Theosophen daher, durch Opferung von unseresgleichen die edlen Seelen zu befreien und mit ihnen in Kontakt zu treten oder sich diese gar einzuverleiben.«

Es ging nun steil abwärts. Wir standen unmittelbar vor unserem Ziel, das spürte ich deutlich. Es wurde immer heller, und ein frischer Wind machte sich bemerkbar. Je weiter es nach unten ging, desto besser wurde die Luft.

Ich fragte mich, wie wohl die unterirdische Totenstadt belüftet wurde. Doch ich vergaß darunter nicht die wichtigste aller Fragen, die ich Samantha noch stellen wollte.

»Warst du je Zeuge solcher Opferungen oder drohtest du selbst, ein Opfer zu werden?«

»Nein, dafür bin ich wohl zu sehr die Seelentrösterin und ›Inventar‹ des Fürsten. Auch bin ich Gott sei dank bis jetzt von solchen schauerlichen Demonstrationen verschont geblieben. Aber ich habe all das krude Zeug studiert, das Savoyen täglich liest. Und ich erfuhr, daß schon die alten Ägypter, aber auch viele andere mystisch geprägte Kulturen das Ohr als das Tor zur Seele betrachteten. Nach diesen Überlieferungen verläßt die Seele den Kadaver durch das Ohr. Und wenn beim Sterben etwas nachgeholfen wird, kann die gute Seele ja vielleicht genau an dieser Stelle abgepaßt werden. Verstehst du jetzt, worum es geht? Alles paßt zusammen, Francis, vor allem was die heutige Nacht betrifft. Ein Bote übermittelte Savoyen, daß um diese Uhrzeit wieder ein Ritus vollzogen würde.«

»Und was wollen wir unternehmen, wenn es soweit ist?

Vielleicht das mobile Einsatzkommando von World Wide Fund for Nature alarmieren?«

»Ich weiß nicht, was du dagegen unternehmen wirst, Francis. Doch mir wird bestimmt noch etwas einfallen, um unsere Brüder und Schwestern zu retten! Und danach werde ich dieses fürstliche Monster endgültig verlassen.«

Schräger Gesang drang allmählich zu uns, was unsere Unterhaltung schlagartig zum Ersterben brachte. Wir zuckten zusammen und hielten den Atem an. Als wir nach einer Weile wieder Mut gefaßt hatten und uns vorwärts wagten, sahen wir, daß sich auch das bisherige Bild des sich ewig hinziehenden Ganges verändert hatte. Wir steuerten dem letzten Rundbogen entgegen, offenbar der Schlußpunkt unserer Reise. Dahinter wurde es heller und heller, und der seltsame Gesang, Hunderten Kehlen entströmend, schwoll zu brüllender Lautstärke an. Jenseits des Ausgangs versperrte eine hohe Balustrade die Sicht, so daß wir immer noch rätseln mußten, was sich dahinter verbergen mochte. Samantha und ich wechselten einen langen bangen Blick, in dem die Frage schwang, ob wir tatsächlich den Mut aufbringen würden, unsere zwar gruselige, aber in Anbetracht des echten Grauens da draußen plötzlich recht gemütlich erscheinende Katakombe zu verlassen. Dann aber ließ ich mich doch von meiner selbstmörderischen Neugier verleiten, gab mir einen Ruck, stürmte zur Balustrade und hechtete hinauf.

Es wäre übertrieben gewesen zu sagen, daß das, was ich nun sah, die Hölle sei. Nein es war die Musicalversion der Hölle. Und zwar mit Giovanni und Konsorten aus dem Largo Argentina als den wahren Stars.